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***Die Mitte der Welt***

 dmdwelt kritik
 
Autor: Nick Prahle
 
Phil (Louis Hofmann) lebt mit seiner Mutter Glass (Sabine Timoteo) und seiner Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) ein ungewöhnliches Leben in einer gewöhnlichen, deutschen Kleinstadt. In der Villa „Visible“ sind die Geschwister zusammen aufgewachsen und hatten eine abenteuerliche Kindheit. Doch diesen Sommer wird alles anders.
 
Phils neuer Mitschüler Nicholas (Jannik Schümann) stellt seine Welt auf den Kopf. In ihm findet er seine erste große Liebe und macht erste, intensive sexuelle Erfahrungen. Zusammen mit Kat (Svenja Jung), Phils bester Freundin, bilden sie bald eine feste Clique und genießen unbeschwert das Leben. Bis alles anders kommt als gedacht. Auf den Siebzehnjährigen kommen Liebesprobleme und Vertrauensbrüche zu. Zudem muss er sich mit den komplizierten Männergeschichten seiner Mutter und dem seltsamen Verhalten seiner verschwiegenen Schwester auseinandersetzen. Auch lässt ihm die Frage danach, wer sein richtiger Vater ist, keine Ruhe. Und bald wird klar: Dieses Jahr wird sein ganzes Leben verändern.
 
Eine aufschlussreiche Aktualisierung
 
Buchadaptionen sind immer eine heikle Angelegenheit. Der Roman „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel erschien 1998. Seitdem begleitet die Geschichte viele junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben. Dass sich in den 18 Jahren, nachdem das Buch auf den Markt kam, deren Lebenssituation auf radikale Weise verändert hat, ist keine Überraschung. Die Inszenierung des jungen österreichischen Regisseurs Jakob M. Erwa versucht diesem Wandel gerecht zu werden, und passt die Geschichte der Gegenwart an.
 
Damit begibt sich der Film auf die Spur dieser Generation. Auf die Spur ihrer besonderen Ästhetik, die durch digitale Anschauung geschult ist. Auf die Spur einer anderen Sprache, die sich neue Mitteilungsformen gesucht hat. Dieser Gesichtspunkt ist entscheidend, um sich als Fan des Buches nicht sofort enttäuscht abzuwenden. Hier wird eine andere Mitte der Welt porträtiert. Das Ergebnis dieser Verschiebung schlägt sich bildästhetisch und dramaturgisch nieder.
 
Es wirkt so, als hätte sich der Ich-Erzähler Phil selber an die Adaption gesetzt. Als schaue er auf die Ereignisse – die Buchvorlage – zurück und überlege: Wie soll ich meine Geschichte erzählen? Welche Bilder möchte ich teilen? Endprodukt ist eine Version der Geschichte, wie sie heute in jedem sozialen Netzwerk ohne Bauchschmerzen gepostet werden könnte. Wie bei jeder Veröffentlichung auf Facebook, Instagram oder Twitter, versucht Phil sich in diesem Szenario nur von seiner besten Seite zu zeigen. Er zensiert sich auf diese Weise und re-arrangiert ein Stück Leben zu etwas Uneigentlichem.
 
 
Bildästhetik: auf Zuschauererwartung zugeschnitten
 
Die Bildästhetik wird dieser Vorstellung im Besonderen gerecht. Das Hin- und Herwechseln zwischen einzelnen Episoden aus Phils Leben kennzeichnet zwar den Handlungsverlauf des Buches. Neu ist, dass dieses Erzählprinzip zu einer Bildcollage ausgebaut wird. Immer wieder unterbrechen Polaroid-Fotografien den Verlauf des Films. Sie illustrieren das Voice-Over des Protagonisten. Spricht Phil von den USA, werden Stars und Stripes eingeblendet. Erwähnt er die Kleinstadtbewohner, erscheinen sie kurz, hübsch aufgestellt. Berichtet er von den Spannungen zwischen seiner Schwester und sich, taucht ein pochendes Herz auf. Eine assoziative Clip-Struktur. In schneller Schnittfolge lösen sich die Bildsequenzen ab.
 
Doch damit nicht genug. Schreibt Phil mit seiner Freundin Kat, wird ihr Whatsapp-Verlauf eingeblendet. Als Nicholas das erste Mal die Klasse betritt, verfärbt sich das Bild in ein liebessattes Rot und Phils Schwarm bewegt sich in Zeitlupe fort. Und als beide im Bett nebeneinanderliegen, schreibt er mit seinen Fingern "Love You" auf Nicholas' Rücken, das kurz in goldenen Lettern aufleuchtet. Bildgestalter Ngo The Chau hat tief in die Zauberkiste gegriffen, um Atmosphäre zu erzeugen. Beziehungsweise zu erzwingen.
 
Auch die Bildinhalte präsentieren sich, als seien sie für eine Online-Galerie bestimmt. Ob Kat und Phil sich etwas zu gewollt amüsieren, als sie sich beim Backen mit Streuseln einschmieren und das Ergebnis sogleich mit dem Smartphone ablichten. Oder die beiden mit Nicholas und einem Selfiestick in der Hand durch den See plantschen. Selbst die Einrichtung der Villa „Visible“, die eigentlich als chaotisch, zusammengezimmert und unentdeckt geschildert wird, erscheint hier shabby-chic. Letztlich wirkt diese Über-Ästhetisierung so, als sei die Buchvorlage mit einem Instagram-Filter überzogen worden. So würde nur ein junger Mensch der Gegenwart seiner Gefühlslage Ausdruck verleihen.

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Das entscheidende Motiv wird ausgelassen
 
Auf dramaturgischer Ebene setzt sich diese Anpassung fort. Auch hier macht es den Eindruck, als hätte man den Rotstift angesetzt, um die Geschichte möglichst community-tauglich zurecht zu streichen. So erklären sich auch die Auslassungen gegenüber der Vorlage.
 
Erwischt hat es alle Absurditäten, die das Buch bietet; groteske Szenerien, sonderbare, kaputte Gestalten und Widerwillen erzeugende Ereignisse: die abenteuerliche Umbettung einer Leiche; die geisteskranke Annie Glösser, die den achtjährigen Phil zwingt, sich auszuziehen und zu masturbieren; den unheimlichen Mitschüler Wolf, der Vogeljunge zerschießt; Und nicht zuletzt die große Schlacht am Fluss, in deren Verlauf die kleine Dianne ihren Bruder beschützt und einen Jungen mit einem Pfeil abschießt – ein Ereignis, das die Verbindung der Geschwister entscheidend prägt.
 
Alles, was aus dem Rahmen des Konventionellen fällt, wurde gestrichen. Und damit entfällt das wesentliche Motiv: Diese Familie ist radikal andersartig. Nicht nur ein bisschen anders, sondern extrem seltsam, geradezu aussätzig. Die beiden sind „Hexenkinder“, die Menschen der Stadt die „Jenseitigen“. Doch auf die Konfrontation zwischen diesen beiden Sphären wurde zugunsten der Liebesgeschichte weitgehend verzichtet. Natürlich sind einige dramatischen Höhepunkte geblieben. Genauso wurde versucht das Magische der Vorlage mit einzubinden. Aber beides dient nur dem Kontrast, der sich sogleich in Harmonie und Bekanntem auflöst.
 
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Fazit
 
Und trotz dieser ganzen Normalisierungen möchte der Film erzählen: „Was immer ein normales Leben auch sein mag, Phil hat es nie kennengelernt“. Diese Selbstauslegung ist heutzutage eine gängige Attitüde unter Jugendlichen. Viele pochen darauf anders zu sein. Deshalb ist der Phil, den der Film zeigt, viel angepasster und konformer, als der Außenseiter im Buch. Der Regisseur mag das nicht intendiert haben. Aber in seiner ganzen Art, gleicht dieser Protagonist einem gewöhnlichen Jugendlichen.
 
Der Film ist auf die Authentizitätserwartungen und den ästhetischen Anspruch einer jungen Zuschauergeneration zugeschnitten. Weil er weiß, worin beides besteht, setzt Regisseur Erwa diesen Anspruch handwerklich präzise um. So kann man zusammenfasend sagen: Nicht das Buch wird adaptiert, sondern die Jugendkultur der Gegenwart. Genau aus diesem Grund wird der Film wohl auch die ansprechen, für die er gemacht ist. Leser des Buches können sich entscheiden, ob sie einer gänzlich anderen ästhetischen Stoßrichtung folgen wollen, oder den Film zum Anlass nehmen, dass Original hervorzuholen.
 
 
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