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Kritik: Poor Things

sub kritik
 
Autor: Walter Hummer
 
Nach seinem Durchbruch mit “The Favourite“ standen Regisseur Yorgos Lanthimos alle Möglichkeiten offen. Er hat sich für ein sehr ungewöhnliches Projekt entschieden …
 
What a confusing person you are
 
London im späten 19. Jahrhundert. Der verschrobene Arzt Godwin Baxter lehrt an der Universität Anatomie. In seinem Stadthaus lebt er mit einigen bizarren Tierhybriden, einer Haushälterin und einer jungen Frau, die über den Verstand, das Sprachvermögen und die Motorik eines Kleinkinds verfügt. Einer seiner Medizinstudenten soll ihm bei der Betreuung der jungen Frau namens Bella helfen. Bela lernt schnell und wird auch in anderer Hinsicht schnell sehr reif …
 
2015 sah ich in einem praktisch leeren Kino „The Lobster“, den ersten englischsprachigen Film des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos. Ich hielt und halte den Film für einen der originellsten Filme der letzten Jahrzehnte und für eine der besten Gesellschaftssatiren der Filmgeschichte. „The Lobster“ ist damals nach kaum zwei Wochen wieder sang- und klanglos aus den Kinos verschwunden. Zwei Jahre später habe ich über Lanthimos‘ nächsten Film, „The Killing Of A Sacred Deer“ berichtet. Dieses fesselnde Drama, das aufmerksamen Betrachter*innen existentielle Fragen stellte, haben weltweit sogar noch weniger Leute gesehen als „The Lobster".
 
Aber 2018 kam „The Favourite“ in die Kinos und brachte Yorgos Lanthimos (und auch seiner Hauptdarstellerin Olivia Colman) den lange verdienten Erfolg. Das bizarre und komische Drama um Queen Anne wurde unter anderem mit verschiedenen BAFTAs, der silbernen Palme von Venedig und dem Oscar für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. „Poor Things“ ist nun Lanthimos erster Spielfilm in fünf Jahren.
 
 
Ich schreibe diese Zeilen im Oktober 2023. „Poor Things“ ist bereits auf einigen Festivals gelaufen und hat u.a. den Goldenen Löwen von Venedig für den besten Film gewonnen. Weitere Auszeichnungen werden sicher folgen und es würde mich schon sehr wundern, wenn der Film nicht in den wesentlichen Kategorien für Oscars nominiert und sogar die eine oder andere der kleinen Statuen gewinnen würde.
 
Auch die Kritik liebt den Film. Aktuell 98% auf Rotten Tomatoes, besser geht es kaum. „Lawrence von Arabien“ hat dort bloß 94%, „Der Pate“ auch bloß 97% erreicht. Kyle Smith vom Wall Street Journal bezeichnet den Film als „spektakulär unterhaltsame, visuell phänomenale, „Candide“-ähnliche feministische Fabel“. Und wenn jemand, der für ein konservatives, wirtschaftsliberales Blatt wie das WSJ Filmkritiken schreibt, ihn mit einer Satire der französischen Aufklärung vergleicht, muss der Film doch etwas Besonderes sein, oder?
 
Ich nehme mal die Spannung raus und stelle fest, ja, der Film ist gelungen. Die Preise sind alle durchaus verdient, sowohl die bereits erhaltenen als auch die kommenden. Durchaus verdient ist auch das fast einhellige Lob der Kritik. Ich kann also ausnahmsweise mal einem Artikel des Wall Street Journals zustimmen. Damit ist der Film auf jeden Fall etwas ganz Besonderes.
 
Die Story ist herrlich skurril. Ich möchte nicht zu viel verraten, weil die Handlung des Films und ihre Wendungen das Publikum idealerweise überraschen sollten. Aber Autor Tony McNamara („Cruella“, „The Favourite“) hat auf der Grundlage einer Erzählung des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray ein Drehbuch verfasst, das alles sein kann und in dem praktisch alles möglich ist.
 
01 ©2024 20th Century Studios03 ©2024 20th Century Studios04 ©2024 20th Century Studios05 ©2024 20th Century Studios
 
Wenn ein Geschöpf im Lauf der Geschichte nicht die eigene Schrecklichkeit sondern die der Menschen erkennt, wird „Poor Things“ zu einer der gelungeneren Film-Variationen von Mary Shelleys Frankenstein. Und auch wenn der Vergleich mit „Candide“ von Voltaire sehr weit hergeholt ist, so liefert „Poor Things“ eine bizarre Korrektur all der naiven, optimistischen Heldenreisen die wir seit mehr als einem Jahrhundert immer und immer wieder im Kino erzählt bekommen.
 
Die Dialoge klingen grandios. Selbst wenn die Hauptfigur ihre Muttersprache noch nicht vollständig beherrscht, kommuniziert sie immer klar und verständlich. Ihr zu lauschen, wie sie immer beredter wird, ist eine Freude. Selbst die absurdesten Gespräche klingen immer stimmig, weil in der Welt von „Poor Things“ eben wirklich alles möglich ist, auch Gespräche darüber, auf welche Körper eine Figur einstechen darf und auf welche nicht oder wie man mit Kindheitserinnerungen und Witzen im Bordell für Stimmung sorgt.
 
Und so wie in McNamaras Drehbuch einfach alles möglich ist, so machen Regisseur Lanthimos und sein Stab hinter der Kamera einfach alles möglich. Bauten, CGI, Make-up und Kostüme vermitteln bizarr futuristische Fantasy-Versionen von London, Lissabon, Alexandria und Paris, voller Schwebebahnen, Bordellen, Luxuskreuzfahrtschiffen, Slums, Irrenanstalten, und Herrenhäusern.
 
Großartig ins Bild gesetzt wird diese Pracht von Kameramann Robbie Ryan, der nach „The Favourite“ bereits zum zweiten Mal mit Lanthimos zusammenarbeitet und es diesmal geschafft hat, den Regisseur zu überreden, die unnötigen Fischaugen-Aufnahmen auf ein erträgliches Minimum zu reduzieren. Montiert wurden die Bilder wieder ganz meisterhaft von Yorgos Mavropsaridis, der mittlerweile für den Schnitt fast aller Filme seines Landsmanns Yorgos Lanthimos verantwortlich ist.
 
We are a fucked species
 
Vor der Kamera sorgt ein großartiges Ensemble dafür, dass in der Welt von „Poor Things“ alles möglich ist. Willem Dafoes ganz besonderes Gesicht hat ihm zu Beginn seiner Karriere vor allem Schurkenrollen beschert, bevor ihn Oliver Stone als eine Art Messias in Vietnam besetzte. Einige Jahre später war er dann unter der Regie von Martin Scorsese tatsächlich der Messias. Seither hat Dafoe unter anderem mehrere Psychopathen, verschiedene Vampire, Vincent van Gogh und mehrmals den gleichen Spider-Man-Bösewicht mit Persönlichkeitsstörung dargestellt.
 
Und obwohl Dafoe auch in fast jedem Film von Wes Anderson mitgespielt hat, ist die Figur des Arztes Godwin Baxter so ziemlich die schrägste Rolle, in der wir diesen Darsteller je gesehen haben. Wieder will ich keine Details vorwegnehmen. Aber alles an diesem Godwin Baxter, von seinem Spitznamen über sein Äußeres, seine Kindheit und Krankengeschichte bis zu seinem Weltbild, ist so skurril, man kann sich praktisch keinen anderen Darsteller in dieser Rolle vorstellen.
 
Mark Ruffalo kennen die meisten von uns als Hulk/Bruce Banner in verschiedenen Beiträgen zum MCU. Dabei hat er sich in so unterschiedlichen Filmen wie „Vergiss mein nicht!“ oder „Spotlight“ auch als kompetenter Charakterdarsteller bewiesen. Ruffalo hat aber in jungen Jahren auch eine Clownsschule besucht. Sein geckenhafter Verführer in „Poor Things“ wirkt, als hätte Ruffalo seine Erfahrungen bei der Darstellung einer Comicfigur, als Charakterdarsteller und als Clown in einen Mixer gepackt, absichtlich den Deckel weggelassen und alles auf höchster Stufe verrührt.
 
Was in der Welt von „Poor Things“ alles möglich ist, sieht man auch, wenn der Auftritt von Rainer Werner Fassbinders Muße Hanna Schygulla in der illustren Schar kompetenter Nebendarsteller*innen beinahe untergeht.
 
Niemand hätte wohl erwartet, was Emma Stone in „Poor Things“ alles möglich macht. Der Star aus „La La Land“ und „Cruella“ hat nach „The Favourite“ letztes Jahr auch in Lanthimos‘ Kurzfilm „Bleat“ mitgewirkt. Die beiden scheinen eine ganz besondere Arbeitsbeziehung entwickelt zu haben. Denn unter Lanthimos Regie sehen wir Stone Essen ausspucken und herumwerfen, torkeln, urinieren, auf Leichen einstechen, masturbieren, toben, kopulieren, erbrechen, kopulieren, trinken, kopulieren, hysterisch toben, kopulieren, sich prostituieren, kopulieren, sich radikalisieren, und immer und immer wieder kopulieren bevor sie am Ende einen der grausamsten Racheakte der Filmgeschichte ausführt.
 
Bei alldem wirkt Stones Darstellung immer stimmig. Wir können die Entwicklung ihrer Figur vom geistigen Kleinkind, über eine Lolita zur Sozialistin und weiter zur Wissenschaftlerin, vom Opfer zur Täterin, vom Geschöpf zur Schöpferin stets nachvollziehen. Während ihre Figur einen weiten Weg zurücklegt, geht die Darstellerin in mancher Hinsicht noch weiter.
 
Und während die gute Emma Stone in ihrer Darstellung weiter geht als irgendeine andere Schauspielerin ihres Kalibers in den letzten Jahren und während vor und hinter der Kamera ganz allgemein alles gemacht wird, damit in diesem Film alles, aber auch wirklich alles möglich ist, frage ich mich, ist das wirklich alles nötig?
 
Is that smell you? (SPOILER)
 
Ist die Geschichte von „Poor Things“ wirklich so anspruchsvoll? Oder bekommen wir hier mit besonders viel Aufwand die Frage beantwortet, wie es ausgehen hätte, wenn Charles Bukowski viktorianische Satiren geschrieben hätte? „Pygmalion meets Fuckmachine“? „The importance of being factotum“?
 
Ich habe bis vor zwei Absätzen des Langen und Breiten die vielen hervorragenden Aspekte des Films beschrieben. Aber „Poor Things“ lässt bei näherer Betrachtung durchaus auch einzelne Schwächen sowohl des Inhalts als auch der Umsetzung erkennen, die von der Kritik bisher weitgehend ignoriert wurden.
 
Eine der offensichtlichsten und oft durchgekauten Lehren von Mary Shelleys „Frankenstein“ (und fast aller Bearbeitungen dieses Stoffes) ist die, dass der Doktor, der das Geschöpf erschaffen hat, das wahre Monster ist. So weit so wenig neu. Wenn hier der Doktor, der das Geschöpf erschaffen hat, von Anfang an wie Frankensteins Monster aussieht, ist das nicht besonders subtil. Wenn das unbedarfte weibliche Wesen den eigenen Weg zu (sexuellem) Bewusstsein und Erkenntnis damit beginnt, sich ausgerechnet einen Apfel einzuführen, braucht man mit dem ersten Buch der Bibel gar nicht besonders vertraut zu sein, um zu verstehen, was gemeint ist.
 
Wenn der geile, unsichere Mann die Frau beim ersten Anzeichen selbstständigen Verhaltens in eine Kiste sperrt, ist das sicher eine feministische Botschaft. Bloß keine besonders neue und keine besonders subtile Botschaft. Spätestens wenn die Frau den Mann mit ihrer sexuellen Selbstbestimmung buchstäblich in den Wahnsinn treibt, möchte man den Film zusätzlich zu allen anderen Auszeichnungen auch noch für den „Darren-Arronofsky-Ehrenpreis-für-Subtilität“ nominieren.
 
Themen wie diese auf diese Art zu behandelt zu sehen, wird manche Betrachter*innen vielleicht eine Distanz zur Geschichte entwickeln lassen, statt sie einzubeziehen. Viele Teile des Films sind so plump geraten, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der Filmemacher würde einem in solchen Momenten ständig zuzwinkern. Nudge nudge, knowwhatimean? Es sind Stellen wie diese, die einen auch darüber nachdenken lassen, ob der Film nicht eher für Kritiker und Festivaljurys gemacht ist, als für das Publikum.
 
Das Feuilleton liebt diesen Film jetzt schon. Unter anderem wegen des Wagemuts von Emma Stone. Aber ich fühlte mich irgendwann an „Jackass Forever“ erinnert, der meinen ohnehin geringen Bedarf am Anblick männlicher Geschlechtsteile auf Jahrzehnte hinaus gedeckt hat. Zwar bietet das behaarte Dreieck von Frau Stone sicher einen deutlich erfreulicheren Anblick als irgendeiner der Penisse irgendeines der an „Jackass Forever“ beteiligten Herren. Trotzdem gilt: Genug ist genug. Und mehr ist zu viel.
 
Bei der überdeutlichen, detaillierten Darstellung oder Zurschaustellung nackter Körper im Film sollte man sich immer fragen, ob der Film ohne diese Szenen auch interessant wäre. Würden wir „Der letzte Tango in Paris“ heute noch sehen wollen, wenn die arme mittlerweile verstorbene Maria Schneider nicht so furchtbar inszeniert worden wäre? Was wäre „Basic Instinct“ MIT Unterwäsche gewesen?
 
“Poor Things“ wäre doch auch ohne den immer wiederkehrenden Anblick von Emma Stones Schambereich interessant. Und feministische Botschaften gewinnen durch den Anblick femininer Geschlechtsmerkmale nicht an Nachdruck. Also wozu der Überfluss an Nacktheit? Die inflationäre Zuschaustellung der nackten Hauptdarstellerin hat mich das exakt getrimmte, scharf umrissene Dreieck irgendwann für anachronistisch und nicht zur Figur und ihren buschigen Augenbrauen passend empfinden lassen. Und welche Frau hatte denn im späten 19.Jahrhundert stets glattrasierte Achseln? Irgendwie kann mir nicht vorstellen, dass Yorgos Lanthimos wollte, dass wir uns nach seinem Film mit Fragen wie diesen beschäftigen
 
Fazit
 
Yorgos Lanthimos hat wieder einen höchst ungewöhnlichen Film gedreht. Vieles daran ist ganz großartig gelungen. Aber einzelne Aspekte wirken dann doch, als wollte man damit eher das Feuilleton erreichen als das Publikum.
 
 
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